WIL WAGNER fuhr gemächlich die Diemelsee-Randstraße ent­lang. Die Kommentare Jos über seinen unaufgeregten Fahrstil ignorierte er inzwischen rou­tiniert. Bald waren sie am Fährhaus. Eine Armada silbergrau-blauer Streifenwagen ließ das Blaulicht in einem bizarren Takt durch den Nachmittag zucken. Er sah sowohl Wagen mit Wiesbadener Kennzeichen als auch mit NRW auf den Nummernschildern. Rot-weißes Flatterband knatterte im kühlen Wind.

   Umständlich stieg er aus und knöpfte seine Jacke zu. Warum war es hier nur immer so kalt? Jo eilte schon längst den Weg herunter zum Ufer. Wil hin­gegen ließ sich Zeit und schaute sich die Umgebung in aller Ruhe an, während Jo schon mit den Streifen­beamten und der Kriminaltechnik palaverte.

   Am Steg dümpelte ein seltsames Boot, es sah wie tiefergelegt aus, mit einem offenen Luk in einem niedrigen Turm. Neben dem Fährhaus waren zahl­reiche weiße Klapp-Pavillons festgezurrt. Kamera­leute vom Fernsehen geisterten zwischen den Beam­ten herum. Warum hatte die niemand des Feldes verwiesen? Und woher wussten die nicht nur Be­scheid, sondern waren sogar vor der Kriminal­polizei da? Außerdem käme das TV kaum zu einem schnöden Mord in den hintervorletzen Winkel Nordrhein-Westfalens beziehungsweise Hessens, je nach Per­spek­tive.

   Wil wollte einen Tontechniker zusammenfalten, der seinen Weg kreuzte, als ihm siedend heiß einfiel, dass an diesem Wochenende die Dreharbeiten zu einer skurrilen Koch-Show mit einem speziellen U-Boot aus Rotterdam stattfinden sollten. Das hatte er in der Waldecker Post gelesen. Er stoppte einen Unifor­mierten mit hessischem Löwen am Oberarm. Pech­schwarzes, dichtes Haar, dunkler Bart­schatten, ge­bräunte Haut. Er kannte ihn nicht, nie zuvor gesehen, vermutlich aus Kassel. „Hallo Kollege, Wilke Wag­ner, Kripo Korbach. Was ist hier los?“

   „Wilke?“, kam es misstrauisch.

  „Kriminalhauptkommissar Wagner“, beruhigte ihn Wil und hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase. Das hätte er sich denken können. Wilke assoziierte man in Waldeck immer noch in erster Linie mit Wurstwaren, obwohl die Firma längst liquidiert worden war.

   „Ah, danke Herr Kommissar. Talay, Efrem Talay mein Name. Hier ist richtiges Chaos. Die Kollegen aus Westfalen waren schon da und wollten wie üblich alles an sich reißen. Aber keine Sorge, wir lassen uns nicht abdrängen!“ Der Mann wies vielsagend mit dem Kinn Richtung Steg, auf dem Jo lautstark mit einem Uni­for­mierten der hessischen Polizei stritt, der demon­strativ die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

   Wil fasste sich an den Kopf. „Egal. Jetzt bin ich ja hier. Aber was können Sie mir berichten?“

   Talay zuckte mit den Schultern: „Bei den Dreh­arbeiten in dem Tauchboot haben die glatt eine Leiche auf dem Grund des Diemelsees gefunden. Folglich riefen sie die 110. Der Notruf lief in Korbach auf. Der Kollege von der Zentrale glaubte zunächst, jemand wolle ihn verar... äh, ... in den April schicken, weil der Anrufer aufgeregt in Niederländisch gefärbtem Deutsch davon berichtete, dass er mit einem U-Boot eine Leiche gefunden hätte. Der Intelligenzbolzen von Notrufmanager meinte, Korbach ist zwar Hansestadt, aber der Hafen am Kuhbach habe noch niemals ein Schiff, geschweige denn U-Boot gesehen und legte auf. Ha, ha, ha, typisch Kreisstadt-Humor.“ Er lachte gespielt übertrieben und verdrehte die Augen. „Immer diese Landeier.“

   „Hallo!“, holte ihn Wil wieder in die Gegenwart zurück. „Und weiter?“

  „Was? Als nächstes haben die vom Set dann die Wache in Brilon angerufen, die prompt eine Streife schickten. Unser Mann in der Zentrale erzählte mir lauthals lachend von dem Anruf, als ich die heutigen Einsatzberichte abgeben wollte. Ich habe ihn dann über die Dreharbeiten aufgeklärt, stand doch in der Wal­decker, und bin schnell mit dem Streifenwagen hierher. Als ich die Streife aus Westfalen bemerkte, habe ich sie darauf hingewiesen, dass wir hier zu­ständig sind. Aber Sie wissen ja, wie die Sauerländer sind: stur wie das Finanzamt bei der Steuererklärung. Da habe ich Verstärkung aus Kassel angefordert. Schließlich ist das hier unser Land.“

   Wil lächelte amüsiert. „Seit wann genau sind Sie in Waldeck? Ich kenne Sie gar nicht.“

   Der Polizist verdrehte ungehalten die Augen. „Ich bin der Neue, wenn Sie das meinen, und ja, habe schon verstanden. Nur weil ich aus Frankenberg bin, werde ich wieder mal total ausgegrenzt!“

   Der Hauptkommissar stutzte. „Efrem Talay ist aber kein typisch Frankenberger Name, oder?“, konnte er sich nicht verkneifen.

   „Stimmt auffallend und erwischt, meine Eltern stammen tatsächlich aus Battenberg. Aber das kann einer aus Mainhattan wohl kaum wissen.“

   Der Mann war zwar neu, doch offensichtlich über Wils Herkunft bestens im Bilde. Die dunklen Wellen plätscherten träge an den Kiesstrand. Das konnte ja heiter werden.

 

JO NIGGE winkte Wil zu sich. „Komm doch mal bitte, Wil!“

   Sein Kollege und Freund unterbrach das Gespräch mit einem Beamten in hessischer Uniform und bahnte seinen knapp zwei Zentnern einen Weg durch die aufgescheuchte Hühnerschar.

   „Wil, ich denke, unsere Kollegen rennen sich gegenseitig über den Haufen. Wir sollten die Hälfte nach Hause schicken. Was meinst du?“

   „Schon klar, aber welche Hälfte genau bekommt jetzt Feierabend?“

   „Ach, du denkst immer so praktisch. Für die Sauerländer Seite bin ich mit Paul gut bedient. Und Kalle kann meinetwegen den Verkehr regeln. Da ist er in seinem Element.“

   „Hm, scheint plausibel. Ich baue auf Rosa Schlucke­bier.“ Wil schien einen Moment zu über­legen. „Und dann auf den Neuen. Den kann ich gleich mit meinen Gepflogenheiten vertraut machen.“

   „Ihr habt ungelogen in Korbach einen frischen Kollegen? Etwa strafversetzt?“

   Wil boxte ihm in die Rippen. „Schließ nicht immer von dir auf andere.“

   „Touché! Aber wenigstens brauchen wir uns bei der Kriminaltechnik nicht zu entscheiden. Die West­fälische aus Dortmund steckt im Stau auf der A44, die Bielefelder sind woanders gebucht.“ Jo riss plötzlich die Augen auf und röchelte ein entsetztes „Nein, nicht die schon wieder!“

   Mit dem Schreibblock in der Hand stolzierte diese Tintenkleckserin Karla „Kolumna“ Bathen auf ihn zu. „Wie zum Teufel sind Sie hinter die Absperrung gekommen?“, fauchte er sie an.

   Bathen blickte ihn hochmütig aus halbge­schlos­senen Lidern an. „Na na, nicht so unfreundlich.“

   „Beantworten Sie bitte meine Frage. Wobei das Wort bitte nur eine Höflichkeitsfloskel in einer polizeilichen Anweisung ist.“

   „So? Der Herr Kommissar ist mal wieder im Unnahbarkeitsmodus.“

   „Frau Bathen! Ich warte auf die Antwort.“

   „Boah, fast wie im Fernsehen bei Hart aber Fair.“ Sie hob abwehrend die Hände, als sie seinen Gesichts­ausdruck sah. „Schon verstanden. Ich hatte eine Ein­ladung von Jürn.“ 

   Bathen grinste selbstgefällig. Schließlich provo­zierte sie mit der Beschränkung auf den Vornamen die nächste Frage. Und Provozieren schien ihr Lebens­inhalt zu sein. Aber da hatte sie sich geschnitten. Den niederländisch-niederdeutsch klingenden Namen hatte er heute schon gehört. Klar, der finanzierte die Koch­show. „Herr Schreiner hat Sie eingeladen. Wozu?“

   „Als exklusive Berichterstatterin zu der sensa­tionellen Show, natürlich. Denn wer käme da eher in Betracht als ich?“

   „Mir fielen da einige Alternativen ein.“

   „Die hat er aber nicht gefragt“, kam es pikiert zurück. „Ich wiederhole: exklusiv!“

   „So exklusiv wie Ihre Schützenfest­bericht­er­stattung?“ Er sah, dass das getroffen hatte. Der Punkt ging an ihn. „Waren Sie dabei, als die Leiche ge­sichtet wurde?“

   „Leider nein, auf dem U-Boot war bedauer­licher­weise kein Platz. Aber ich wartete hier am Ufer.“

   „Ok, Sie können gehen.“

  „Ach, ich sehe mich noch etwas um.“

  „Welchen Teil von ‚Sie können gehen‘ haben Sie nicht verstanden?“

  „Müssen Sie nicht meine Personalien aufnehmen?“

  „Von einer so exklusiven Berichterstatterin?“

  „Sparen Sie sich Ihre billige Ironie. Aber als Presse­vertreterin habe ich ein Anrecht auf Infor­mationen.“

  „... von der Pressestelle“, ergänzte Jo. „Frau Bathen, das hatten wir schon. Und jetzt verlassen Sie bitte den Tatort.“

  „Ich werde mich beschweren!“

  „Auch das hatten wir schon. Aber wenn diese Beschwerde alles ist, was Sie vorzubringen haben, nehme ich das als Hinweis, auf dem richtigen Weg zu sein. Einen schönen Tach noch.“ Dieser Blick von der Bathen! Allein der war es wert, heute Morgen aufge­standen zu sein.