Leseprobe, Auszug aus Kapitel 1

SPALTE 1: Beginn der Leseprobe

Ein Fall für das Sondereinsatzkommando

 

Kassel-Bettenhausen, Mittwoch, 13. Juli 2061, 09:45 Uhr

 

 

 

JORIK NIGGE hielt inne, seine Waffe zu überprüfen, und schaute auf. Der Einsatzleiter – niemand anderes als Steffen Kovac – reckte soeben die rechte Hand in die Höhe, führte mehrere kreisförmige Armbewegungen aus und rief: „Okay, okay, Leute, kommt schon, Lagebesprechung. Sammeln!“

 Jorik wusste, dass sein pedantischer Chef es hasste, das behagliche, voll­klimatisierte Büro zu verlassen, um sich in die Niederungen der Realität zu bewegen. Nun aber war er sogar vor Ort gekommen. Die Spur, der sie hier fol­gten, war also mehr als heiß! Kurz kam ihm der Besuch der Com­pu­ter­spezialistin aus Paderborn in den Sinn. Spontan drei Möglichkeiten: Sie war sonderbar, hatte sich schlicht geirrt – oder es steckte tatsächlich etwas da­hin­ter. Er nahm sich vor, später darüber nachzudenken. Jetzt war hier seine volle Aufmerksamkeit gefordert. Irgendwie verwunderlich, dass Kovac ihn dabei haben wollte. Nach der schief gelaufenen Nummer in Calden war er allerdings nur allzu froh darüber.

„Sammeln!“, nahm jemand aus dem SEK den Befehl auf. Nach und nach erwachten dösende Kameraden aus ihrer Lethargie, Unterhaltungen erstarben. Alle bildeten einen lockeren Kreis um den Einsatzleiter.

„Also, Leute, keine Übung!“, begann Kovac ohne Umschweife. Die etwa ein Dutzend Einsatzkräfte umfassende Crew ging in die Hocke und hob die Hand zum Zeichen, dass sie aufnahmebereit war. „Lage: Wir befinden uns in Kassel-Bettenhausen. In dieser Richtung“, mit aus- gestrecktem Arm wies Kovac nach vorn, „befindet sich das Ziel, zwei Handbreit rechts neben dem eckigen Hochhaus von China South-East im Hintergrund. Ein rotes Krüp­pel­walmdach und ... ah ... schmutzig-weiße Wände.“ Alle hatten sich in die an­ge­zeigte Richtung gewandt und sich das unscheinbare Gebäude gemerkt.

„Nigge, Zielbestätigung!“

Jorik zuckte zusammen. Sollte er hier etwa wieder vorgeführt werden? Aber da konnte man nichts machen, da musste er jetzt durch. Also reckte er den Hals und präzisierte: „Gleich links daneben steht ein quadratischer Flach­bau, durch die dritte aufgestellte Photovoltaikfläche geht ein vertikaler Riss.“

„Exakt! In dem Haus rechts befindet sich die Zielperson, Geert van Adeling. Ob sich dort weitere Personen aufhalten, ob Mitkombattanten oder nicht, ist nicht bekannt. Die IT-Aufklärung ist sich mal wieder eben nur fast sicher, dass er allein ist.“ Der Einsatzleiter machte eine kurze Pause, bevor er spöttisch fortfuhr: „Aber das kennt ihr ja schon von den Bitfressern.“ Grinsen rundum zeigte, dass die Gruppe den Witz begriffen hatte. Bei Kovac waren alle Stümper – außer ihm selbst natürlich. „Auftrag: Wir müssen van Adeling um jeden Preis – ich wiederhole: um jeden Preis! – lebend in unsere Gewalt bringen. Hey, Nigge, was bedeutet das?“

Jorik war genervt. Tatsächlich, jetzt fing das wieder an! Alle im Zug wussten, dass bei dem Einsatz in Kassel-Calden unter seiner Leitung Kollegen gestorben waren. „Dass wir ausschließlich Betäubungsmittel nutzen dürfen“, entgegnete er kühl. Wie lange würde er das noch vorgehalten bekommen? Klar, der Auftrag damals war total schief- gelaufen. Aber dass es so geendet hatte, war nicht vorherzusehen gewesen. Auch die intensive Untersuchung der internen Dienstaufsicht konnte ihm kein Fehlverhalten nachweisen. Ein­stel­lung des Verfahrens aus Mangel an Beweisen – leider nur ein „Freispruch zweiter Klasse“. Etwas blieb immer hängen, dummerweise auch an Steffen Kovac, Abteilungsleiter im UNCS-Regionalpräsidium Kassel. Denn sein da­maliger wie heutiger Vorgesetzter sah in dem Bericht nicht besser aus als er selbst. Ja, Jorik hatte ihn sogar offiziell der Lüge bezichtigt, was dieser er­folgreich bestritten hatte. Trotzdem wurde Kovac bei der nächsten an­ste­henden Beförderungsrunde „übersehen“.

„Okay, okay. Richtig, Nigge! Und nachdem ich nun weiß, dass es jeder, aber wirklich auch jeder kapiert hat: Letale Munition jetzt abgeben. Dervaux sammelt alles ein: Lagerung bei den Transportmitteln. Hirschlinger gibt statt­dessen zweckmäßige Betäubungsmittelmunition aus. Ausführung!“

„Chef? Nach welcher Terrororganisation schauen wir eigentlich, den rech­ten Linken, den Hakenkreuzrittern oder gar den Letzten Zeugen?“, fragte Jorik.

„Das brauchst du nicht zu wissen! Kümmer dich lieber um deine Bewaff­nung“, kam es unwirsch zurück. Aha, Kovac wusste es also selbst nicht. Jorik widmete sich seinem Werfer, löste das Magazin heraus, zog den Schlitten nach hinten und ließ das dabei ausgeworfene Geschoss in die Hand fallen. Geübt entsicherte er, hielt die Waffe nach unten und drückte zum Ent­spannen ab: Klick. Alles klar! Jetzt das Sichern nicht vergessen.

Es dauerte eine Weile, bis die komplette Gruppe alle Taschen durchsucht und die tödlichen Projektile ausgehändigt hatte. Hirschlinger kletterte inzwi­schen aus dem Mun-Wagen und tei­lte ge­langweilt neue Projektilwerfer aus. Als alle versorgt waren, fuhr der Einsatzleiter fort: „Durchführung: Wir ma­chen es wie in Venlo. Ich wiederhole: Plan Venlo. Noch Fragen?“

„Warum kein Zugang mit Hubschrauber von oben?“, fragte jemand aus der hinteren Reihe.

Kovac spähte zwischen den Vordermännern hindurch, konnte aber an­schei­nend keinen Sprecher ausmachen.

Typisch, traute sich wohl nicht, dachte Jorik. Das hatte er von seinen Me­thoden!

„Wir sind in der überkuppelten Altstadt, schon vergessen? Kein Platz für einen Schrauber. Fällt außerdem jedem Idioten auf, dass was nicht stimmt und Sicherheitskräfte anrücken, oder? Hier gibt es keinerlei Hochhäuser in der Nähe, von denen wir uns rüberhangeln könnten. Wir müssen es also auf die altmodische Tour machen. Trotzdem danke der Nachfrage.“

Das Wir wirkte wie der reinste Zynismus. Als wenn Kovac je in seinem Leben etwas Derartiges für sich selbst auch nur in Betracht gezogen hätte!

„Videosensoren?“

Verdammt, welcher Klugscheißer war das nur? Gleich verliert der Chef die Geduld!

„Zur Erinnerung: Wir sind in Bettenhausen. Die Stadt ersetzt die Ka­meras zwar regelmäßig, aber genauso regelmäßig werden sie zerstört. Nein, keine brauchbaren Nahaufnahmen. Nur Teleaufnahmen von weiter Richtung Zentrum. Die spielt die Zentrale in ihre Systeme ein. Und wir lassen natürlich ein paar Kleinsonden aufsteigen. Sie sind schon in Waldau gestartet. Dürften bald da sein. Hat noch jemand schlaue Fragen, oder können wir endlich an­fangen?“

Oh, oh, jetzt war anscheinend endgültig Schluss mit lustig. Kovac schaute provokant in die Runde: Schweigen. Jorik musste innerlich grinsen. Die Ent­scheidung, Bettenhausen mit unter die Kuppel zu ziehen, war damals knapp gewesen, wie er mal gehört hatte. Hätte man den totalen Niedergang des Viertels vorhergesehen, wäre es sicher draußen geblieben. Auch der Rest, die „Altstadt“, war keine romantische Ansammlung von Fachwerkhäusern. Jeden­falls heute nicht mehr. Das war über hundert Jahre her, als es noch Kriege mit Massenheeren gab. Kassel hatte komplett bis zum letzten Haus in Schutt und Asche gelegen. Jetzt bestand es hauptsächlich aus einer gänzlich unroman­tischen Anhäufung von heruntergekommenen, aber denkmal­ge­schütz­ten Ge­bäu­deklötzen aus der frühen Wirtschaftswunderzeit, von denen der schmut­zig­graue Putz in großen Brocken abblätterte.

Der Einsatzleiter fuhr fort: „Also los: Gruppe 1 mit Sergeant Hirschlinger geht über den Vordereingang rein. Gruppe 2 übernimmt heute der Kollege Nigge vom Ermittlungsteam. Sie versuchen den Zugang von hinten. Gruppe 3 mit Sergeant Dervaux sichert die Umgebung in einem Ring. Nigge, dran den­ken, wir haben nur kurze Reichweiten wegen der Betäubungs­mittel­mu­ni­tion!“

Jorik nickte. Am besten gar nicht auf die Provokationen eingehen, auch wenn es schwerfällt. Das ärgerte Kovac am meisten.

„Ich beziehe hier den Gefechtsstand.“ Kovac zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen fensterlosen, schlichten Lieferwagen. „Alle Datenlinks akti­vie­ren, und los!“

Klar, Kovac begab sich in die Befehlszentrale, die war schließlich voll­kli­ma­tisiert! Das SEK ging in Startposition. Jetzt fehlte nur noch der obliga­torische Abschlussanschiss, dachte Jorik und wartete erst mal. Er zählte bis zehn. Als nichts kam, wandte er sich um.

„Nigge!“ Der Tadel in Kovacs Stimme war nicht zu überhören.

„Was?“ Also doch.

„Typisch Nigge! Den Datenlink aktivieren!“

Jorik ballte ärgerlich die Fäuste, schaltete jedoch schleunigst den Link auf „on“.

 

Weiter nebenan Spalte 2

 

 

SPALTE 2: Fortsetzung der Leseprobe

Sturm auf van Adelings Burg

 

Kassel-Bettenhausen, Mittwoch, 13. Juli 2061, 09:51 Uhr

 

 

 

JORIK NIGGE holte tief Luft. Diesmal würde er alles richtig machen. Er sammelte seine Gruppe und umrundete, um nicht weiter aufzufallen, in einiger Entfernung den Häuserblock mit dem Zielgebäude. Die meisten Häuser verfielen sichtlich. Fensterscheiben waren zerbrochen, Unkraut wu­cher­te aus Mauerritzen. Eigentlich Verschwendung, dass die Kuppel diese Gegend überspannte. Es war das ideale Quartier für zwielichtige Geschäfte. Kaum Zuschauer: Kein seriöser Bürger verirrte sich zufällig dorthin. Die we­nigen verbliebenen Bewohner hatten es nicht so mit den Behörden gleich welcher Art, ob Ordnungs-, Wertstoff- oder Wohlfahrts- management. Mit Si­cher­heit auch nicht die zahlreichen Autonomen, die hier hausten – schließlich war es unter der Kuppel ganzjährig trocken, der schädliche Regen blieb draußen, und jeder kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten. Viel Alkohol, Sex und regelmäßig Drogen. Seine Seniorpartnerin Miriam Götze pflegte zu sagen, Bettenhausen sei die letzte Station vor der Hölle. Na, die musste es ja wissen, sie stammte aus der Gegend, soweit er sich erinnern konnte. Sie war jetzt aber ironischerweise nicht vor Ort, sondern musste den Einsatz vom Präsidium aus verfolgen. Kovac duldete sie kaum in seiner Nähe, da sie sich nichts gefallen ließ – schließlich konnte sie wegen ihres Alters jederzeit gehen. Jorik wusste genau, dass das eine leere Drohung war, dazu ermittelte sie zu gern - und zu Hause wartete niemand auf sie. Aber ihr Chef hatte auch davon keine Ahnung.

Ein Geräusch – alle schwenkten ihre Waffe herum. Es war jedoch nur eine erbärmliche Katze. Sie buckelte und zeigte spitze Zähne. Corporal Ko­walski drückte den Projektilwerfer ab, die Betäubungskristalle suchten sich ihren Weg durch das verlauste und verfilzte Fell. Das Fauchen ging in ein helles Jaulen über, das abrupt abbrach. Dass die Dosis für so ein kleines Lebe­wesen tödlich war, störte kaum jemanden in der Gruppe. Nur Jorik tat es leid, nicht nur weil er Buddhist war. Immerhin hatte es das verwahrloste Tier wie auch immer geschafft, ohne Frauchen oder Herrchen mitten in Betten­hau­sen zu überleben.

Der Sicherungstrupp setzte sich wieder in Bewegung. Drei abgerissene Kinder unterbrachen, was immer sie getrieben hatten und schauten ihnen neugierig zu. Von Angst keine Spur. Jorik bedeutete ihnen mit Handzeichen, zu verschwinden. Keine Reaktion. Er wurde deutlicher. Der Älteste streckte die gepiercte Zunge heraus, die anderen zeigten ihm beide ihren gestreckten Mit­telfinger. Jorik machte einen Schritt auf sie zu. Mit einem scharfen Pfiff drehten sie sich um und verschwanden um die nächste Hausecke. Glück ge­habt, er konnte sich jetzt wohl kaum mit notreifen Halbstarken befassen!

Jetzt aber schnell weiter, sie waren schon in der Nähe des Zielortes. So suchten sie zwischen verbeulten Wertstofftonnen Sichtschutz und schoben sich an der dreckigen Hauswand entlang. Neben einem ziemlich geschmack­losen, für die Gegend aber typischen Graffiti hielten sie an. Konnte ein Lie­bes­paar wirklich solch eine artistische Stellung einnehmen? Die Gruppe hockte nieder und beobachtete die Umgebung. Alles ruhig. Nach einer Weile gab Jorik das verabredete Handzeichen, der Rest schloss auf und rückte eben­falls voran.

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GEERT VAN ADELING – der in Wirklichkeit ganz anders hieß – hatte gewusst, dass sie ihn eines Tages erwischten. Nun war es also so weit, den Warn­pfiff konnte er schwerlich überhören. Glücklicherweise hatte er ein paar Straßenkids engagiert, die Umgebung im Auge zu behalten. Er schielte vor­sich­tig aus dem Fenster. Niemand zu sehen, auch nicht Kiffer-Karl, der normalerweise um diese Zeit an der Ecke gestreckte Joints an die Autonomen verkaufte. Das war mehr als verdächtig, die Kids hatten recht, da stimmte etwas nicht. Aber ausgerechnet jetzt, so knapp vor dem Ziel! Bitter enttäuscht sah er ein, dass er seinen Job nicht wie geplant erledigen konnte.

Der neue Führer hatte ihm höchstselbst den Auftrag erteilt. Da gab es diese neue Gruppe von Glaubensbrüdern, die sich den Letzten Zeugen ange­schlossen hatte, dort draußen, im Schatten der Kuppel, im Kasseler Nord­viertel. Denen sollte er die Entschlüsselungssoftware zukommen lassen. Er fühl­te noch immer die stahlgrauen Augen Rudolfs II. auf sich ruhen, der eindringlich betonte, das Päckchen mit dem Speicher unbedingt persönlich zu überbringen. Persönlich! Beim heiligen Adolf, wie sollte das denn nun gehen?

Aber was soll’s, er war aufgeflogen, Jammern half jetzt nicht weiter, er musste irgendwie improvisieren. Das Wichtigste war, die Neuen und den Führer sofort zu warnen. Aber wie? Der Datenverkehr seines PCs wurde mit Sicherheit überwacht, das war Routine. Er konnte also kaum Klartext senden, dann wüssten die Net-Cops gleich Bescheid, und er lieferte alle ans Messer. Verschlüsselt ging auch nicht, die Neuen hatten ja die Codeliste noch nicht. Er war in der Zwickmühle, was tun?

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JORIK NIGGE war zufrieden mit ihrem Vorgehen. Eine Helmein­spie­gelung zeigte ihm die zeitgleich anpirschende erste Gruppe. „Fräulein Hirsch­linger“, wie sie respektlos von ihren Kollegen genannt wurde, ging betont lang­sam und vorsichtig zu Werke. Untypisch besonnen für diesen Haufen, dachte Jorik. Ihre Gruppe hatte die schäbige Haustür des Objekts erreicht. Wachsam drückte sie sich unterhalb der Fenster an die Hauswand. Mit einem Wink holte Hirschlinger ihren Einsatzpartner heran. Über einen altmodischen Brief­schlitz, wie man ihn hier noch oft vorfand, schickte der eine kabel­ge­bundene Sonde in den Hausflur. Jorik konnte über die Helmeinspiegelung alles mit ansehen: Eine offene Treppe führte nach oben, dahinter eine nach unten, dann kam rechts eine Tür, um die Ecke ein Tischchen mit einem Staub­fänger von Kunststoffblumen. Der abgenutzte Teppich warf ziemlich viele Falten. Sonst bemerkte er nichts Auffälliges.

Seine Gruppe hatte inzwischen die Rückwand erreicht und ging in Po­sition. „Fertig“, meldete er der Einsatzzentrale, obwohl Kovac via GPS genau über ihre Stellung Bescheid wusste. Dervaux hatte den Ring mittlerweile ge­schlossen. Die Crews warteten nun auf den Einsatzbefehl.

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GEERT VAN ADELINGS Gedanken überschlugen sich. Moment! Sollte das vielleicht klappen? Warum nicht, er könnte zwei getrennte Nach­richten schicken: zweimal eine codierte Warnung, jeweils an Hugo und in die Nord­stadt, dann in einer weiteren Sendung den zugehörigen Code zur Ent­schlüs­selung an die Neuen. Van Adeling hatte nur recht diffuse Vorstellungen vom Netz, aber dass Sendungen zwischen A und B verschiedene Wege nah­men, wusste selbst er. Unwahrscheinlich, dass sie von derselben Person abge­fangen wurden, oder? Egal, das musste er jetzt riskieren, sonst war alles ver­loren! Aber halt! Die Codierungssoftware konnte er nicht einfach so versen­den, der Führer hatte es ausdrücklich verboten. Mal überlegen: Er würde ihn eben nicht als Text, sondern als Grafikbild abspeichern und als Urlaubsbilder tarnen, das musste reichen! Und er würde sie auch nicht von der Wohnung hier ins Netz einspeisen. Vielleicht konnte er sogar trotz allem noch ent­kom­men – denn er hatte sich vorbereitet für einen Fall wie diesen. Rasch entsi­cherte er einen unscheinbaren Schalter und betätigte ihn. Der Störsender würde die Verfolger ausreichend lange aufhalten. Ein ausgeklügeltes Modell, das unregelmäßig die verschiedensten Frequenzbereiche behinderte und etwas zeitverzögert als Krönung ein ganz bestimmtes Band total blockierte. Gleich­zeitig löschte van Adeling die Speichereinheiten seiner fest installierten Com­pu­teranlage. Die würden nichts mehr darauf finden! Den Sicherungs­fest­speicher mit der Entschlüsselungssoftware trug er am Körper, eine etwa münz­große metallene Scheibe hing an einer Kette um seinen Hals.

Er lief nun zum Kleiderschrank. Mit einem Rück öffnete er ihn, schob hastig die bunten Hosen und Jacken beiseite und drückte die Rückwand seitwärts. Die Idee hatte er aus einer History-Geschichte im Netz. Irgendwie freute er sich: Seine Kumpel hielten ihn immer für verrückt, ja paranoid. Dabei war es reine Vorsicht! Und die zahlte sich endlich aus. Jetzt zeigte er es allen! Mit einem Sprung verschwand er über eine Rutsche nach unten und war wenige Augenblicke später im Keller angelangt. Beim Aufprall verdrehte er sich den linken Fuß, war aber inzwischen so mit Adrenalin vollgepumpt, dass er es kaum wahrnahm.

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JORIK NIGGE und seine Crew verharrten in Warteposition.

„Hirschli...“ Starkes Rauschen unterbrach die Meldung über den Daten­link vom Gefechtsstand. Was war jetzt wieder los? Zweiter Versuch: „Hirsch­linger, Zugriff!“

Jorik konnte beobachten, wie die andere Gruppe sich mit der Haustür abmühte. Die Tür hatte noch ein mechanisches Schloss, da half ein elek­tro­nischer Universalöffner wenig. Man musste schon grobe Gewalt anwenden. Die Gruppenführerin nickte erst ihrem Partner zu, dann hob sie den rechten Daumen. Nun befestigte sie einen Klumpen Sprengstoff in Höhe der Türbän­der und am Türschloss. Beinahe sanft schob sie den Funkchip mit dem Zün­der rein. Schließlich betätigte sie den Auslöser per Funksignal. Ein schwaches „Puff“, ein bisschen Rauch, und schon hing die Tür nur noch an einer Angel im Rahmen. Das Duo an der Tür hielt die Werfer im Anschlag. Geübt sicherten sie in alle Richtungen. Die zurückgebliebene Truppe stürmte auf den Eingang zu. Mit den Läufen ihrer Waffen drückten sie die schiefe Tür nach innen. Keiner von ihnen hörte den leisen Klick. Die zweite Explosion war genauso kurz, aber weit heftiger.

Mit einem Knistern brach die Übertragung in Joriks Helm ab.

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GEERT VAN ADELING lächelte, als eine heftige Erschütterung den Putz von der Kellerdecke rieseln ließ. Die Nullbits von Bullen hatten also versucht, von vorn hineinzukommen – direkt in die Sprengfalle. Selbst schuld, dachte er mitleidlos. Vor seinem geistigen Auge sah er mehrere zerfetzte Men­schen, die schwer blutend ihr Leben aushauchten. Zehn Kilogramm Spreng­stoff de luxe konnten da einiges anrichten, das kam davon, wenn man sich mit ihm anlegte! Er jedenfalls wehrte sich bis zum Letzten – so wie damals der heilige Adolf. Der hatte auch so viele wie irgend möglich mitgenommen. Die Cops sollten sich noch wundern! Noch in tausend Jahren wird man im wie­dererstarkten Deutschland von seinen Heldentaten berichten. Jetzt aber muss­te er weiter, das waren schließlich nicht wirklich Dummköpfe.

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STEFFEN KOVAC riss entsetzt die Augen auf. Die Detonation war bis zum Gefechtsstand zu hören gewesen. Ihm war sofort klar, dass etwas schief gegangen sein musste. Mehrere Monitore an der Wand mit den Namen der SEK-Mitglieder blinkten. Waren sie bisher einfach nur gestört, signalisierten sie jetzt den Verlust der Vitalfunktionen in grellem Rot und mit einem nerven­zerreißenden Dauerton. Ms Hirschlinger und ihr Partner waren sofort tot, der Rest außer Gefecht gesetzt.

„Nigge!“, brüllte Kovac ins Mikro. Rauschen. Nochmal, diesmal kam er wenn auch schwach durch: „Nigge! Er weiß, dass wir da sind! Das Gebäude ist mit Sprengfallen versehen – Abbruch! Ich wiederhole: Abbruch! Und neu sammeln!“

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JORIK NIGGE verdrehte die Augen. „Quatsch“, gab er umgehend zu­rück. „Dann ist van Adeling doch längst weg. Ich geh jetzt da rein.“

„Abbruch, habe ich gesagt! Mindestens zwei Kollegen sind tot!“, knisterte es aus dem Helmlautsprecher.

Jorik hatte genau verstanden, ruckelte aber ein wenig an seinem Kabel, zur Sicherheit. „Tschuldigung, dieses Rauschen! Ich kann Sie nicht richtig ver­stehen. Ich wiederhole: Ich gehe jetzt da rein.“ Jorik wusste, dass die undeut­liche aber letztlich doch verständliche Aufzeichnung ihn später Lügen strafen würde, das war ihm jedoch im Moment egal. Er brauchte endlich einen Er­folg, und zwar sofort! Die Kollegen sollten nicht umsonst gestorben sein – nicht schon wieder.

Er war nicht so dumm, es durch die Hintertür zu versuchen. Wer die Situation so effektiv vorbereitet hatte, verminte auch die Rückseite. So weit stimmte er Kovac zu. Er versuchte sich in van Adeling hineinzuversetzen. Klar, der konnte sich hier eine Weile erfolgreich verschanzen. Bloß, ein Profi – und genau dafür hielt ihn Jorik jetzt – nahm unmöglich an, dass er das auf Dauer hinbekäme. Nein, der hatte bestimmt einen Plan B, um flüchten zu können. Dem musste er unbedingt zuvorkommen. Fieberhaft überlegte er, wie er an van Adelings Stelle das Ganze anginge. Dass die Sicherheitskräfte einen dichten Umring legten, war absehbar. Oben war Schluss, innerhalb der Kuppel fiele ein Fluggerät zu sehr auf. Also unten! Ja, Jorik hätte einen Flucht­weg über den Keller in eines der Nebengebäude geplant. Da könnte er von außen unbemerkt nach nebenan verschwinden. Das SEK war kaum in der Lage, den gesamten Gebäudekomplex zu überwachen. Er schloss den Kom­stecker wieder in die Buchse, ging mit einer Vorranganfrage auf die Website des regionalen Baumanagements und ließ sich die Gebäudegrundrisse ein­spie­geln. Hm, da gab es mehrere Möglichkeiten. Jetzt musste er pokern: rechts oder links? Ohne langes Zögern entschied er sich für links.

„Gefechtsstand: Ich gehe über den Keller des südlichen Nachbar­ge­bäu­des rein!“

Langanhaltendes Zischen, dann: „Nigge, ich habe doch Abbruch gesagt, wir müssen alles noch mal durchdenken!“

Laber du nur, dachte Jorik. Er teilte seiner Gruppe die Marschrichtung mit Handzeichen mit und wandte sich nach links. Mit einem gezielten Tritt zersplitterte er mit seinen gepanzerten Kampfstiefeln das einfach verglaste Kel­lerfenster, wischte mit dem Lauf der Waffe die Glaszacken aus dem Rahmen und schwang sich ins Innere.

Seine Gruppe zögerte. Sollten sie ihm trotz der eindeutigen Befehle aus dem Gefechtsstand folgen?

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STEFFEN KOVAC fühlte sich dem Druck kaum noch gewachsen. War er langsam tatsächlich zu alt für den Job? Erst die Explosion mit bislang unbe­kannter Zahl von Opfern, dann Nigge, der erneut alles besser wusste und auf eigene Rechnung operierte. Wenn das hier zu Ende war, würde er sich diesen Clown kaufen, so viel war klar. Der versaute ihm auf keinen Fall noch mal die Beförderung – der nicht!

Damit nicht genug: Im Lautsprecher nur noch Fiepen, Dröhnen, Zischen und Knistern, eine geregelte Kommunikation unmöglich. So etwas hatten sie noch nie. Und das Schlimmste: Die Flugsonden fielen plötzlich wie Steine vom Himmel – alle Schrott! Die Kommunika- tionssoftware, die die Verbin­dung mit dem SEK sicherstellen sollte, reagierte zwar sofort und wechsel­te pausenlos die Frequenzen, aber das Bild verschwand häufig oder wur­de von welligen Streifen überlagert. Fuck, er war praktisch blind und brauch­te doch dringend Informationen! Sollte er etwa persönlich rausgehen? Oh, wie er das hasste – dieser Staub, dieser Dreck, dieses Chaos! Kovac stierte auf das zerfaserte Bild. Ob er seinen Vertreter schicken konnte? Nein, das war eine Dumpfbacke, der ritt ihn nur noch mehr rein. Das musste er schon selber richten! Hätte er das geahnt, wäre er im Hauptquartier geblieben. Es half alles nichts. „Okay, Lieutenant, übernehmen Sie den Gefechtsstand. Ich muss mir ein Bild vor Ort machen.“

Dann schnappte er sich den Kom-Helm. Wo befand sich noch gleich der Schalter? Mit polternden Schritten hastete er raus.

 

 

 ENDE DER LESEPROBE