Niemand überholt die Presse

„Wir haben heute Dienstag, den
05. August 2019.
Kinners hömma, hier ist Radio Hochsauerland, der spannende Sender aus der Bezirkshauptstadt Arnsberg. Für euch exklusiv anne Arbeit euer gern gehörter Conférencier Konny Kracht mit eurer Lieblingsshow ‚Bis es Kracht‘, und das Wort des Tages heißt Schlaffanzuch. Wenn ihr diesen Begriff vernehmt, sofort melden und die Chance auf ein Wochenende in der Pension Wandertraum in Frettermühle, Gemeinde Finnentrop, sichern.
Das Wetter zeigt sich wie gewohnt nicht von seiner allerbesten Seite! Nieselregen von morgens früh bis abends spät und nachts mit Beleuchtung.
Aber jetzt erstmal die ersehnte Werbung. Dann etwas Fetziges aus den Neunzigern: ‚I am a Looser‘ von Beck.“

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JO NIGGE nahm im Zeugenstand Platz.
„Name?“, donnerte die neue Richterin befehlsgewohnt.
Sie wirkte auf Jo wie die Stellvertreterin Gottes auf Erden, knapp vor dem Papst. Hier kam es darauf an, einen absolut sicheren Eindruck zu hinterlassen, wie er nur zu gut wusste. Jetzt bloß keinen Fehler fabrizieren. Er hatte nur einen Versuch. „Johannes Nigge.“
„Geboren?“
„Am 26. Mai 1995 in Olsberg-Hoperinghausen.“
„Beruf?“
„Polizeibeamter.“ Blöde Frage: Warum nur hatte er sich heute Morgen in die längst zu eng gewordene Uniform gezwängt?
„Soso. Wohnort?“
„Olsberg-Hoperinghausen.“
„Straße?“
„Hoperinghausen hat nur eine Straße.“
„Trotzdem, sie wird doch einen Namen haben!“
„Hoperinghausen ist gleichzeitig der Straßenname.“
Die Richterin schüttelte den Kopf: „Stimmt, das ist dieses völlig verschlafene Nest hinter den Steinen.“
Gedankenlosigkeit oder Provokation? Egal, hier war sie der Chef im Ring: „Jawoll, Frau Vorsitzende.“
Nach der obligatorischen Mahnung der Vorsitzenden Richterin Piechottka am Amtsgericht Brilon ging es gleich ans Eingemachte.
„Ihnen wird vorgeworfen, am Mittwoch, dem neunten Januar diesen Jahres, vor einer Kuppe auf der L743 zwischen Bruchhausen und Brilon-Wald das Auto mit dem amtlichen Kennzeichen HSK-WL 12345 überholt zu haben, obwohl eine Gefährdung des entgegenkommenden Verkehrs wegen der eingeschränkten Sicht nicht sicher ausgeschlossen werden konnte.“
„Das ist so nicht korrekt, Frau Vorsitzende.“
„So hat es die Zeugin Karla Bathen zu Protokoll gebracht.“
„Dann steht Aussage gegen Aussage.“
„Ach? Warum sollte Frau Bathen falsches Zeugnis ablegen?“
„Wieso sollte ich lügen?“
„Weil Sie keine Lust haben, zu Fuß zu laufen? Immerhin droht ein Fahrverbot gegen den Verkehrssünder.“
„War das eine Frage, Frau Vorsitzende?“
„Werden Sie jetzt nicht frech, Herr Kriminalkommissar Nigge! Sie glauben wohl, Ihre Uniform schützt Sie, macht Sie mit der Justiz gemein? Aber ich zeige Ihnen jetzt, dass an meinem Gericht andere Gepflogenheiten gelten als beim anscheinend aus gutem Grund frühpensionierten Vorgänger!“
Jo zuckte zusammen. Er und sein vorschnelles Mundwerk!

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                             #gleich am nächsten Morgen#

JO NIGGE zog den Kopf ein, als seine Chefin die Westfälische so hart auf den Schreibtisch knallte, dass das Designer-Tässchen mit Espresso von der Untertasse kippte. Sie beachtete gar nicht, dass die tiefbraune Flüssigkeit eine schnell größer werdende Pfütze erzeugte. Gleich erreichte sie irgendwelche Papiere und Akten. Hoffentlich nichts Wichtiges. Naja, ihr Problem. Obwohl: Sie neigte dazu, ihre Schwierigkeiten in seine Probleme umzuwandeln.
„Sagen Sie jetzt bitte, dass das nicht wahr ist!“, fuhr sie ihn empört an. Ihre Frisur, heute wie ein kunstvolles Vogelnest geflochten, wippte gefährlich.
Jo zögerte. Doch Leugnen erschien ihm zwecklos: „Irgendwie schon, Frau Claaßen.“
„Das glaube ich jetzt nicht. Das glaube ich jetzt einfach nicht! Fährt mit dem neuen Dienstwagen und landet glatt auf der Titelseite der Zeitung!“
„Frau Claaßen, ich konnte doch nicht ahnen, dass ausgerechnet Karla Kolumna in ihrer fahrenden Handtasche auf der Landstraße im Schritttempo vor sich hin träumte.“
„Karla Kolumna?“
„Äh, die örtliche Lokalredakteurin der Westfälischen Landeszeitung, mit bürgerlichem Namen Frau Bathen. Kolumna ist nur ihr Künstlername.“
„Die nennt sich echt nach der Reporterin in den Benjamin-Blümchen-Geschichten?“
Jo verdrehte die Augen. Kein Humor, seine Chefin. „Nein, natürlich nicht, das mit dem Pseudonym ist ein Scherz.“
„So, ein Jux. Und ein flacher dazu: Sie lenken ab, Kollege Nigge!“ Aus ihrem Mund klang ‚Kollege‘ wie ausgespuckt. „Mussten Sie denn unbedingt überholen, so kurz vor der Kuppe?“
„Also Chefin, die Frau fuhr höchstens sechzig-siebzig, parkte sozusagen, und der Begriff Kuppe ist an dieser Stelle völlig übertrieben. Die ist flacher als meine Witze, da sieht man locker drüber hinweg.“ Zumindest, wenn man größer als eins-sechzig war, was man von der Zeitungstante beim besten Willen nicht behaupten konnte.
„Wie auch immer: Jedenfalls wird die angesagte aktuelle Aktion des Innenministers zur Verkehrssicherheit doch kaum gefördert, wenn ein Kriminalkommissar der Briloner Polizeistation mit dem Dienstwagen auf der Titelseite der örtlichen Presse prangt, wie er vor einer Kuppe überholt.“
Jo hätte Kolumna erwürgen können. Hatte Sie es wieder geschafft, ihn in Schwierigkeiten zu bringen. „Das Foto in der Zeitung verzerrt die Realität“, entgegnete er lahm.
„Das spielt überhaupt keine Rolle. Oder glauben Sie, dass würde auch nur eine Leserin, respektive eine potentielle Wählerin des Innenministers kapieren? Damit das klar ist: Sie absolvieren sofort ein Fahrsicherheitstraining, bevor Sie wieder einen Dienstwagen auch nur ansatzweise auf dem Parkplatz bewegen! Haben wir uns da verstanden?“
„Ach nee, das glaube ich jetzt nicht.“
„So? Ich dachte immer, Sie wären ein gläubiger Mensch? Mir egal, ob Sie das überzeugt. Ich bin Atheistin. Kommen Sie mir ja nicht ohne Teilnahmebestätigung der Kreisverkehrswacht zurück!“
„Ich habe Berufung eingelegt! Immerhin steht Aussage gegen Aussage. Sicher werde ich von einem richtigen Gericht freigesprochen. Diese neue Richterin hat alles, was ich zu meiner Verteidigung vorgebracht habe, als unglaubwürdig vom Tisch gewischt.“
„Was? Ziehen Sie die Berufung sofort zurück! Erstens schlachtet das die Presse doch nur noch mehr aus! Und was mag zweitens denn dabei schon anderes herauskommen? Glauben Sie, wegen eines profanen Verkehrssünders, der nebenbei sogar Bulle ist, wird das Justizsystem geändert?“
Mist, da hatte Jo nicht dran gedacht. Die Schreiberin würde diese Gelegenheit erneut nutzen, um ihm eins auszuwischen, weil er ihr damals beim Langenbergmord(*FN*    Veröffentlicht in „Mord(s)genau – jetzt wirdʼs grenzlich“, erschienen 2018.*FN*) die Tour vermasselt hatte. Und die Richterin wirkte zweifellos durchsetzungsstark. Andererseits stand ja wahrhaftig Aussage gegen Aussage: kein Fahrer auf dem unscharfen Foto zu erkennen! Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Reporterin es unglaublicherweise während der Fahrt geschafft hatte, ihn zu fotografieren. Egal: Es drohte ein Fahrverbot, wenn es Kolumna gelänge, ihm zusätzlich eine konkrete Gefährdung des Gegenverkehrs anzuhängen.
Und das alles kurz vor dem Schützenfest in Bruchhausen!

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